Allgemein Herz & Seele Städtereisen Unterhaltsames

Leben auf der Straße, die etwas andere Stadtführung in Düsseldorf

19. September 2024

Ich habe im Rahmen unseres Betriebsausfluges Anfang der Woche an einer Stadtführung der ganz anderen Art in Düsseldorf teilgenommen. Das Erlebnis ließ mich beeindruckt, nachdenklich und zugleich unendlich dankbar für mein eigenes Leben zurück.

Deswegen möchte ich euch heute davon erzählen und euch eine solche Stadtführung ans Herz legen. Die gibt es in der Art übrigens nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in anderen Großstädten.

Stadtführung Düsseldorf fiftyfifty Obdachlose

Täglich laufen wir mehrmals an ihnen vorbei. Für viele von uns ist es schon so alltäglich, dass wir die schlafenden, in Decken gehüllten Gestalten am Straßenrand, oder die erschöpften Schnorrer am Bahnhof gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Jeder in Düsseldorf ist sicher auch schon den Straßenverkäufern begegnet, die das Magazin von fiftyfifty verkaufen und sich so ein paar Cent dazu verdienen können.

Was ich bisher noch nicht kannte, waren die Düsseldorfer Stadtführungen des Projekts „Straßenleben – der Stadtrundgang“. Sie bieten eine einzigartige Plattform, bisher schlummernden Geschichten zu wecken, einen Dialog zwischen ehemals Obdachlosen und den Führungsteilnehmer*innen herzustellen und somit auch gefestigte Vorurteile abzubauen.

Ich arbeite beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und eine unserer Mitgliedsorganisationen in Düsseldorf ist fiftyfifty. Ich hatte aus diesem Grund beruflich bereits mit dem Verein Kontakt. Das in Düsseldorf sehr bekannte Projekt fiftyfifty geht inzwischen allerdings weit über die Herausgabe eines Straßenmagazins hinaus. Es leistet einen wichtigen Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit und Integration in der Stadt. Der im Oktober 2021 von fiftyfifty gegründete und von der Stadt geförderte „Housing First Düsseldorf e. V.“ bringt außerdem Obdachlose inzwischen dauerhaft in Wohnungen.

Stadtführung Düsseldorf Gisa und Vanessa

Unsere Stadtführung wurde von den Tourguides Gisa und Vanessa begleitet, die beide sehr froh sind, über Housing First von der Straße weggekommen zu sein. Gisa stellte sich uns mit den Worten: “Ich bin Deutschlands bekannteste Schwarzfahrerin” vor. Wow, was für eine Geschichte. Und was für ein Leben mit Drogen und Obdachlosigkeit hat sie bereits hinter sich. Vanessa erzählte uns von ihrer Alkoholkrankheit und wie sie versucht, ihr Leben irgendwie trotzdem auf die Reihe zu bekommen. Beide Frauen empfand ich als ehrlich, offen, sympathisch und sehr empathisch.  Jeder Obdachlose, dem wir während der Stadtführung begegneten, wurde von ihnen sehr herzlich begrüßt, man kennt sich. Und hilft sich.

Die Führung startete am Rathaus in der Altstadt in Düsseldorf und dauerte knapp zwei Stunden. Während dieser Zeit erzählten Gisa und Vanessa.

Wo übernachten Wohnungslose? Wie strukturiert man seinen Tag, wenn man keine Wohnung hat? Wo befinden sich Anlaufstellen? Was zeichnet einen guten Verkaufsplatz für das Straßenmagazin von fiftyfifty aus?aus? Was bedeutet das Thema Sucht in diesen Zusammenhängen? Wir lernten an verschiedenen Plätzen, die im Leben der Obdachlosen in Düsseldorf eine besondere Rolle spielen, diese Lebenswelten kennen.

Stadtführung Düsseldorf fiftyfifty

Wie fühlt es sich an, draußen zu schlafen? In einem Hauseingang, unter dem Vordach eines Bürogebäudes, auf dem Asphalt? Was bedeutet es, drogensüchtig zu sein? Wo bekommen Obdachlose Essen, Kleidung oder ein warmes Bett? Wo finden sie einen Anwalt, der ihnen hilft, wenn sie vertrieben werden oder diskriminiert? Wie ist es mit der ärztlichen Versorgung? Auch diese Fragen beantworten uns Gisa und Vanessa bei ihrer alternativen Stadtführung.

Stadtführung Düsseldorf fiftyfifty

Sie zeigten uns einige Beispiele defensiver Architektur, wie zum Beispiel diese Bänke. Hierbei handelt es sich um strategische Baumaßnahmen der Stadt- und Bauplanung gegen unerwünschte Personengruppen. Mit unpraktischem oder unbequemem Design soll dabei verhindert werden, dass sich zum Beispiel obdachlose Menschen, Jugendliche oder Skateboardfahrer an bestimmten Orten aufhalten.

Sie erzählten uns, wie Crack und Fentanyl immer mehr zum Problem werden, warum sie es furchtbar finden, dass Obdachlose mit kleinen Kindern in Notunterkünften mit Blick auf die Junkies in der Bahnhofsgegend untergebracht werden. Dass sie jedes Jahr am 21. Juni, zum Gedenktag der Drogentoten in der Elisabethkirche einen Gedenkgottesdienst besuchen. Und dass der Pfarrer der Andreaskirche in der Altstadt Gottesdienste und eine Beerdigung organisiert, wenn ein Obdachloser stirbt.

Stadtführung Düsseldorf fiftyfifty

Sie erzählten uns, warum sie nachts in der Altstadt nie ihre Schlafsäcke geschlossen haben. Weil betrunkene Jugendliche, die vom Feiern kommen, gerne mal Alkohol auf Obdachlose schütten und zündeln. Man kommt in einem solchen Fall schneller aus dem Schlafsack und die Verbrennungen werden nicht ganz so schlimm. Puhhh.

Was sie sich wünschen: mit Respekt behandelt zu werden. Das man ihnen Zeitungen abkauft. Dass man, wenn man ihnen Geld gibt, nicht sagt: “…aber nicht für Alkohol ausgeben”.

Beim Bäcker Hinkel können sie sich Brot vom Vortag kostenlos abholen, wenn sie einen Ausweis von fiftyfifty haben. Der Schinken Toni am exklusiven Carlsmarkt versorgt sie mit Belag für die Brötchen, er hat sein vielen Jahren ein großes Herz für Obdachlose, erzählten Gisa und Vanessa. Es gibt ehrenamtliche Ärzte und Tierärzte.

Auch eine unserer Fragen: warum haben so viele Obdachlose einen Hund? Wenn der auch noch mit versorgt werden muss? Zur eigenen Sicherheit, zum Schutz.

Ich konnte die vielen Geschichten und Eindrücke kaum verarbeiten. Mit wieviel Würde und Anstand die beiden Frauen trotz ihrer sehr schwierigen Lebensumstände ihr Leben meistern, hat mich unfassbar beeindruckt. Ich kann euch eine solche Stadtführung wirklich empfehlen, um eine Stadt und das Leben der Menschen, die in ihr leben, aus einer anderen Perspektive zu sehen. Man lernt unterschiedliche Hilfsangebote kennen, die man ansonsten kaum wahrnimmt. Und bekommt vielleicht Ideen, wie man selbst unterstützen kann, und sei es nur, dass man ihnen ein Straßenmagazin abkauft oder einen Kaffee und eine Mahlzeit kauft.

Stadtführung durch Obdachlose in Düsseldorf

Ein Ticket für diese ganz besondere  Stadtführung (buchen könnt ihr hier) in Düsseldorf kostet 9,00 €. Wir haben den Frauen  zusätzlich noch ein Trinkgeld gegeben.
Beginn der Führung samstags oder sonntags jeweils um 13 Uhr bzw. 15 Uhr. Für geschlossene Gruppen (z.B. Schulklassen, Freundesgruppen etc.) oder wie in unserem Fall der Betriebsausflug unserer Geschäftsstelle, kann man einen individuellen Termin, auch an Wochentagen, vereinbaren.

Alles Liebe

Barbara

You Might Also Like

3 Comments

  • Reply Britta 20. September 2024 at 5:35

    Liebe Barbara,
    danke für den Beitrag.
    Ich werde mich erkundigen, ob es so eine Stadtführung auch in meiner Nähe gibt.
    Das Thema finde ich so wichtig, denn wir alle sind immer nur einen Schritt weit vom Abgrund entfernt.
    Leider leben wir so, als könnte uns das NIE passieren.
    Weit gefehlt.
    Es gibt so viele Gründe , warum man auf der Straße landen kann. Wir können sie uns , gerade in guten Zeiten, nur nicht ausmalen.
    Liebe Grüße
    Britta

  • Reply Mascha 20. September 2024 at 6:37

    Schön, dasz es wenigstens in Groszstädten so etwas nun gibt! Ich weisz sehr gut, wie es sich anfühlt, drauszen zu schlafen, Platte zu machen. … Ich wollte seinerzeit – noch in den 90ern – eine kleine Führung “Die Stadt von unten” selbst auch anbieten, aber unsere Stadt und ihre Tourismus-GmbH ist dafür viel zu spieszig. Inzw. gibt es hier auch nur noch wenige “stadteigene” Gestalten, von Berbern wird die Stadt weiträumig umfahren. Dafür haben die rechten “Saubermänner” gesorgt, die damals gezielte Menschenjagd machten – da gab es sogar einen Toten, ich hab ihn gesehn (stand aber nicht in der Zeitung) und die Platten wurden regelmäszig abgefackelt bzw. kurz und klein geschlagen. Ich könnte so manches erzählen… Aber auch mein Videomaterial wurde vom Berger-TV nicht gesendet. Ich habe lediglich Lesungen gemacht, manchmal in VHS oder Kirchengemeinden. Ist aber lange her und war die Situation der 90er. Heut bin ich selbst raus aus der Szene und viele, die ich damals kannte, leben gar nicht mehr.
    Liebe Grüsze
    Mascha

  • Reply Mascha 20. September 2024 at 6:39

    PS: musz heiszen: Bürger-TV, meine Augen sind zu schlecht für winzige Kommentarfelder.

  • Leave a Reply